Ansprache der Vizepräsidentin des lettischen Parlaments Saeima im Bundestag zum 100.Staatsjubiläum Lettlands

07.06.2018. 12:28
  • Ārlietu dienests Latvijas valsts simtgadei

 

Feierliche Veranstaltung anlässlich der 100- jährigen Staatsgründung der drei Baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen

Ansprache der Vizepräsidentin des lettischen Parlaments Inese Lībiņa-Egnere

 6. Juni 2018 – Kaisersaal im Deutschen Bundestag

-Es gilt das gesprochene Wort-

 

Sehr geehrter Herr Vizepräsident Dr. Friedrich,

Lieber Herr Vorsitzender Karl,

Sehr geehrter Herr Staatsekretär Lindner,

Kollegen und Kolleginnen, Exzellenzen!

 

Es ist mir eine außerordentliche Ehre, heute hier, auf der Veranstaltung der gemeinsamen Feier des 100. Jubiläums der drei Baltischen Staaten vor den Anwesenden zu sprechen. Ich bedanke mich für die Einladung des Bundestags und für das geäußerte Interesse, engere Kontakte mit den Parlamenten Lettlands, Litauens und Estlands aufzubauen.

Ein Blick zurück auf die hundert Jahre der Eigenstaatlichkeit Lettlands, Litauens und Estlands zeigt heute besonders deutlich die Bedeutung der Sicherheit für das Bestehen und das Wachstum demokratischer, unabhängiger Staaten. Von meiner Generation, die in einem von Sowjetunion okkupiertem Lettland geboren ist, verdienen unsere ersten Staatsmänner besondere Dankbarkeit für ihr tapferes und kluges Handeln, welches am 18. November 1918 den staatlichen Willen unseres Volkes auf die Bildung eines unabhängigen und demokratischen Staates gerichtet hat.

Die Lektion, die das lettische Volk im Laufe der Zeit gelernt hat, lautet: um die Freiheit zu erlangen, zu bewahren und selbst nach 50 Jahren Besetzung es wieder zurück zu erkämpfen, braucht man einen starken Willen und Tapferkeit; ebenso können edle Ziele nur durch entschlossenes Handeln und nachhaltige Anstrengungen erreicht werden.

Die Verteidigung des Staates und der öffentlichen Sicherheit sind große Herausforderungen. Besonders gilt dies für solche geographisch und bevölkerungsmäßig kleine Länder wie die baltischen Staaten. Sicherheit und Verteidigung sind Prioritäten für alle drei Staaten des Baltikums. Davon zeugt auch die Tatsache, dass Lettland und die beiden anderen baltischen Staaten schon heutzutage für die Verteidigung mindestens 2 % ihres Bruttoinlandsproduktes bereitstellen. Unsere internatonalen Verpflichtungen im Sicherheits- und Verteidigungsbereich betrachten wir sehr verantwortungsbewusst.

Es stellt sich die Frage, ob Lettland alleine sich verteidigen könnte? Nein, selbstverständlich, nicht. Es ist die Gemeinschaft der NATO-Länder, in der die Solidarität bzw. der 5. Artikel des Nordatlantikpakts zur Wirkung kommt. Es ist die Gemeinschaft der EU-Länder, in der eine ständige, strukturierte Zusammenarbeit im Sicherheits- und Verteidigungsbereich oder die PESCO besteht. Wir bedanken uns bei Deutschland und bei Frankreich für ihre führende Rolle bei der Gestaltung der PESCO. Wir müssen auch weiterhin die Zusammenarbeit zwischen EU und NATO stärken. Die erwähnten Formate der Zusammenarbeit sind gegenseitig ergänzend und bilden einen kraftvollen Schutzschirm gegenüber den heutigen Herausforderungen.

Sowohl die EU, als auch die NATO haben ihre Außengrenzen in den baltischen Staaten. Darin besteht ihre Verletzlichkeit, gleichzeitig ist aber die Sicherheit unserer Länder im Kontext der europäischen Sicherheit von strategischer Bedeutung. Gerade aus diesem Grund ist für Lettland, Litauen, Estland und Polen die in Warschau getroffene Entscheidung des NATO-Gipfels über die verstärkte militärische Präsenz der Allianz in unserer Region besonders wichtig. Wir begrüßen die Beteiligung der alliierten Streitkräfte an Kampfgruppen der Verstärkten Vornepräsenz (eFP) in den Baltischen Staaten und Polen.

Vor dem Hintergrund der Entwicklungsdynamik der regionalen Situation betrachten wir es als ein wesentliches Abschreckungsinstrument mit langfristiger Wirkung. Wir bedanken uns bei den Parlamenten der verbündeten Länder, insbesondere beim Bundestag für die Unterstützung der Entsendung ihrer Soldaten zu diesen wichtigen Missionen.

Aus der Sicht Lettlands und der anderen Baltischen Staaten darf auch die Energieversorgungssicherheit der Region nicht unterschätzt werden. Die baltischen Staaten haben auf dem Weg von einer „Energieinsel“ zur Integration in den Energiemarkt der EU bereits erhebliche Fortschritte gemacht. Dies wurde dank wesentlicher Unterstützung seitens der EU und ihrer Mitgliedstaaten, darunter Deutschlands erreicht. Gleichzeitig stellen wir aufgrund geopolitischer Erwägungen die Begründung des Projekts Nord Stream II in Frage, weil darin die Gefahr besteht, dass die Abhängigkeit von einem dominierenden Lieferanten und einem einzigen Versorgungsweg vergrößert wird.

Heutzutage umfasst die nationale Sicherheit mehrere wesentliche Aspekte. Als Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsausschusses beim lettischen Parlament habe ich die Möglichkeit, mich regelmäßig zu überzeugen, dass der Sicherheitsbegriff immer weitere Umrisse erhält. Die Gefährdung wird vielfältiger und ist schwieriger erkennbar. Jetzt müssen wir unsere Aufmerksamkeit von direkter militärischer, terrorismus- und migrationsbezogener Gefährdung auf verschiedene Formen hybrider Gefährdungen und hybrider Kriegführung fokussieren.

Neben der militärischen Sicherheit muss man von der Sicherheit des Informationsraumes, von der Cybersicherheit sprechen. Gerade deshalb freuen wir uns über die aktive Tätigkeit des NATO-Exzellenzzentrums für strategische Kommunikation und des Baltischen Medien-Exzellenzzentrums in Lettland. Wir begrüßen auch den Beitrag der EU-Abteilung des strategischen Kommunikationsteams „East StratCom Task Force“ sowie die von unseren litauischen, estnischen und finnischen Nachbarn umgesetzten Aktivitäten im Kampf gegen hybride Gefährdungen.

Für uns ist es wichtig, das kritische Denken und die Medienkompetenz unserer Bevölkerung zu fördern. Ein ganz moderner Begriff in der täglichen politischen Diskussion ist die Sicherheitsfähigkeit oder Widerstandsfähigkeit. Im Nationalen Entwicklungsplan Lettlands wird die Sicherheitsfähigkeit des Menschen als eine von drei Prioritäten angeführt und als Anpassungsfähigkeit des Menschen in einem sich rasch wandelnden Umfeld charakterisiert.

 Zurzeit sprechen wir von der Widerstandsfähigkeit der gesamten Gesellschaft gegenüber verschiedenen Gefährdungen, die nicht immer deutlich sichtbar und definierbar sind. Erfahrungsgemäß können zu uns feindlich eingestellte Kräfte auch mit Hilfe verschiedener Instrumente der „sanften Gewalt“, die scheinbar harmlos - als Tätigkeit gemeinnütziger Organisationen, Vertretungen ausländischer Medien und Kulturorganisationen - umgesetzt werden, die Öffentlichkeit manipulieren. Eine kritische, kompetente und ausgebildete Gesellschaft ist heute ein genauso wesentliches Element der nationalen Sicherheit wie eine moderne, professionelle und gut bewaffnete Armee.

Desinformation, gefälschte Nachrichten, Propaganda und Hassrede, mit deren Hilfe werden nicht nur die Köpfe verschiedener Bevölkerungsgruppen verdreht, sondern auch Ergebnisse demokratischer Wahlen auf unfaire und sogar rechtswidrige Weise beeinflusst. Solche Dinge müssen strickt von der Freiheit der Meinungsäußerung als einem der Grundrechte demokratischer Gesellschaften deutlich unterschieden werden.

Mit Rücksicht auf die direkte Nähe eines aggressiven Nachbarn sowie das Geschichtsbewusstsein könnte man davon ausgehen, dass die Bevölkerung der Baltischen Staaten bessere Fähigkeiten zur Trennung von Spreu und Weizen, zur Unterscheidung zwischen Lüge und Wahrheit haben sollte. In der Tat ist es aber oftmals so, dass die in den Medien veröffentlichte Information leider nur am 1. April, an dem Scherztag kritisch aufgefasst wird. Und wie sieht es im Hetzen Europas aus? In Ländern, die nur von gleichgesinnten und freundlichen Nachbarn umgeben sind? Es lässt sich feststellen, dass auch dort die Gefährdung des Informationsraums ziemlich hoch ist.

Als ein Beispiel erwähne ich die Mitte April vom Fernsehsender ARTE präsentierte, voreingenommene und irreführende Reportage „Kulturkampf in Lettland” über die russischsprachige Minderheit in Lettland. Die Reportage vermittelt nur von einzelnen Personen vorgetragene Meinungen und Behauptungen, die in offensichtlichem Widerspruch zum lettischen Recht stehen und Fakten verdrehen. Leider haben die Journalisten sich nicht die Mühe gemacht, die objektive Sachlage und die Fakten zu hinterfragen. In diesem Fall bleibt uns nur die Hoffnung, dass die Zuschauer in Deutschland und in Frankreich imstande waren, die Reportage kritisch zu beurteilen.

Das erwähnte Beispiel macht uns bewusst, dass alle europäischen Länder der Desinformation, den gefälschten Nachrichten sowie sonstigen Formen der hybriden Gefährdung ausgesetzt sind. Gleichzeitig muss man aber einsehen, dass gerade die Baltischen Staaten wegen ihrer geographischen Lage als eine Art Lackmustest für den Rest Europas dienen. Die Stärke der Widerstands- und Sicherheitsfähigkeit in den baltischen Staaten hat direkte Auswirkung auf die Sicherheit in Europa – je stärker die drei baltischen Staaten, desto sicherer das ganze Europa.

Wir müssen einheitlich und stark sein. Wir müssen entschlossen und wachsam sein. Wir haben diese Verantwortung gegenüber unseren tapferen Freiheitskämpfern und hervorragenden Staatsmännern, die die Idee eines unabhängigen Staates gepflegt und umgesetzt haben; wir haben die Verantwortung gegenüber den großen Staatsmännern Europas, die die Idee eines vereinten Europas gepflegt und umgesetzt haben. Und umso mehr haben wir die Verantwortung gegenüber unseren Nachkommen.

Liebe Freunde, ich würde mich freue dieses Jahr Sie in Lettland und Baltikum begrüßen zu dürfen als wir die 100. Jubiläen unserer Staaten begehen!

Vielen Dank!