Rede des Staatspräsidenten Egils Levits zum Volkstrauertag 2022

15.11.2022. 13:17

 

Rede des Staatspräsidenten der Republik Lettland Egils Levits im Deutschen Bundestag anlässlich der zentralen Gedenkveranstaltung zum Volkstrauertag am 13. November 2022

 

Es gilt das gesprochene Wort

Anreden auf einem separaten Blatt

 

I

Ich bedanke mich für die Möglichkeit, heute, wenn wir uns an die Opfer von Krieg und Gewalt aller Völker erinnern, mit Ihnen einige Gedanken über die Bedeutung der Aufarbeitung der Geschichte für die Gegenwart und die Zukunft zu teilen.

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts war geprägt von einer durch die Großmächte verursachten Gewalt.

Der in Riga geborene liberale politische Philosoph Isaiah Berlin schrieb, dass das 20.Jahrhundert von gewaltigen ideologischen Stürmen bestimmt gewesen sei, welche totalitäre Mächte hervorbrachten und unsägliches Leid über die gesamte Menschheit brachten.

Die von Deutschland verursachten Stürme waren besonders heftig. Millionen Tote in zwei Weltkriegen, ethnische Säuberungen, Angriffe auf souveräne Staaten und das größte Menschheitsverbrechen – der Holocaust, prägten die Geschichte, die niemals vergessen werden darf.

 

II

Doch Deutschland hat sich nicht der Verantwortung für diese gewaltgeprägte Vergangenheit entzogen. 

Voraussetzung dafür war aber eine umfassende politische und moralische Reflexion über die jüngste Geschichte – die Vergangenheitsbewältigung. 

Die Arbeit an der Vergangenheit wurde bestimmt von einer tiefen Reue für die Verbrechen der Nationalsozialisten.  Sie wurde bestimmt von einem moralischen Imperativ des „nie wieder“.  Sie wurde bestimmt von einem generationsübergreifenden Verantwortungsgefühl.

Die deutsche Gesellschaft war und ist bereit, fortwährend über die Vergangenheit nachzudenken, und dabei zugleich Bezüge zu unserer Gegenwart herzustellen.

Die dabei gestellten tieferen politischen Fragen - weshalb sich die Menschen in den Bann einer extremen Ideologie ziehen lassen, weshalb elementare Rationalität und Gerechtigkeit auch in einer Demokratie verlieren kann, weshalb demokratische Institutionen auch versagen können - sind heute wichtiger denn je.

III

Ohne diese Vergangenheitsbewältigung wäre es der Bundesrepublik Deutschland unmöglich gewesen, nach dem Zweiten Weltkrieg ein demokratisches Land aufzubauen.

Ohne diese Vergangenheitsbewältigung hätte Deutschland nie die Achtung der europäischen Nachbarnationen, die Achtung der internationalen Völkergemeinschaft wiedererlangt.

Ohne diese Vergangenheitsbewältigung gäbe es keine Europäische Union, wie wir sie kennen.

IV

Das deutsche Beispiel zeigt, dass ein Volk durch aufrichtige politische und moralische Aufarbeitung einer verbrecherischen Vergangenheit und darin begründete Wiedergutmachungspolitik befähigt werden kann, festes Mitglied einer grenzübergreifenden Rechts- und Wertegemeinschaft zu werden.

Deshalb ist die deutsche Vergangenheitsbewältigung heute zu einem globalen Vorbild geworden.

An ihr kann man die demokratische Geschichtspolitik anderer Staaten messen, deren Geschichte ebenfalls durch Verbrechen und Aggression gezeichnet ist.

V

Dagegen ist Russland ein krasses Gegenbeispiel zur deutschen Vergangenheitsbewältigung. 

Die Opfer des stalinistischen Regimes im eigenen Land zählen in vielen Millionen.  1939 im Zuge des Hitler-Stalin-Pakts hat Russland in Gestalt der damaligen Sowjetunion zusammen mit NS-Deutschland den Zweiten Weltkrieg mit dem Angriff auf andere Staaten losgetreten.

Auch mein Land, Lettland, wurde von Sowjetrussland besetzt. Zwischenzeitlich wurde die sowjetische Besatzung durch die deutsche Besatzung zeitweilig ersetzt.

Beide Besatzungsmächte haben die Menschen in Lettland gemordet, verfolgt, deportiert, in die Flucht getrieben. Lettland hat in den beiden Weltkriegen jeweils ein Drittel seiner Bevölkerung verloren.

VI

            Doch weshalb sind die Deutschen, trotz dieser historischen Erfahrung, heute unsere Freunde?  Weshalb können wir zusammen mit ihnen und vielen anderen Nationen eine gemeinsame europäische Zukunft bauen, während Russland Angst und Schrecken verbreitet?

Weil die deutsche Gesellschaft durch die schonungslose Aufarbeitung ihrer Vergangenheit sich ein festes Fundament an demokratischen Werten aufgebaut hat.

 

VII

Die russische Gesellschaft hat das nie ernsthaft angefangen, nie angestrebt, und nie getan.  

In einem autokratischen Land ist keine Aufarbeitung der Vergangenheit möglich. Denn die Wahrheit würde die Fundamente der autokratischen Macht erschüttern.

Eben dieses Unvermögen zur Vergangenheitsbewältigung hat der Wiedergeburt der kruden Ideologie des russischen Imperialismus den Weg bereitet. 

Diese hat 2014 zur illegalen Annexion der Krim und am 24. Februar dieses Jahres zum offenen Angriff auf die gesamte Ukraine geführt. 

Der amerikanische Historiker Timothy Snyder hat treffend darauf hingewiesen, dass Russland bei der Rechtfertigung des Vernichtungskrieges gegen die Ukraine auf die Thesen der Nationalsozialisten zurückgreift – Ukraine habe keine Geschichte, keine Nationalität, keine Sprache, keine Elite – kurzum, keine Existenzberechtigung.

Aber der eigentliche, viel größere Feind dieser Ideologie, was auch von russischer Seite offen eingestanden wird, ist die Demokratie als politisches System, als Lebensweise, und der Westen als Verkörperung dieser Demokratie.

VIII

Meine Dame und Herren!

Das moderne Völkerrecht, welches nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, ächtet den Angriffskrieg und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Den Schlusspunkt der NS-Ideologie setzte das Nürnberger Tribunal.  Es stellte endgültig und unwiderruflich den verbrecherischen Charakter eines Angriffskriegs fest.  Die Nürnberger Prozesse sind ein Meilenstein des Völkerrechts und der Menschenrechte. 

Deshalb dürfen wir heute ein „backsliding“, Zurückfallen, des damals erreichten und seitdem ständig gefestigten Standards des Völkerrechts nicht zulassen.    Ohne eine auf das Völkerrecht basierende Friedensordnung würde die Welt wieder in eine kriegerische Anarchie versinken.

Der Internationale Gerichtshof und der Internationale Strafgerichtshof, beide in Den Haag, haben bereits begonnen, spezifische Aspekte der russischen Verbrechen gegen die Ukraine zu untersuchen.

 

IX

Doch für die Ursache dieser Verbrechen – dem Beginn eines Angriffskrieges gegen einen souveränen Staat – ist bisher kein internationales Gericht zuständig.  Das ist eine Lücke des Völkerrechts.

Deshalb unterstütze ich die Idee, durch eine Gruppe von Staaten ein Sondertribunal zur Untersuchung und juristischer Aufarbeitung des Russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine einzusetzen. 

Juristisch ist dies möglich. Man braucht nur den politischen Willen dazu.

Das würde auch der Ausbreitung der beschämenden Verkehrung von Täter- und Opferrolle entgegenwirken.

Des Weiteren müssen rechtliche Wege ausgearbeitet werden, um nach dem Ende des Krieges die im Westen eingefrorenen russischen Guthaben zum Wiederaufbau der Ukraine einzusetzen. 

Dies wäre nur ein selbstverständlicher Ausdruck einer elementaren Gerechtigkeit.

X

Meine Damen und Herren!

Die Geschichte zeigt aber auch, dass die politische oder institutionelle Schwäche der Demokratie zu katastrophalen Folgen, zu Krieg und Gewalt führen kann.

Die von Deutschland, Lettland und 25 anderen Nationen gebildete Europäische Union ist heute nicht nur eine wirtschaftliche Union, sondern darüber hinaus eine politische und eine Werteunion. 

 Und die wichtigste von den Dreien, meine Damen und Herren, ist die Werteunion.

Denn die Werte der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte – das sind die Grundbausteine eines demokratischen Verfassungsstaates, der sich von allen anderen historischen und gegenwärtigen Staatsordnungsmodellen unterscheidet. 

Und sie bilden den tieferen Grund für den Zusammenhalt der Europäischen Union, des gesamten Europas und des Westens im weiteren Sinne. 

XI

Diese Werteunion ist nicht nur eine Feststellung, sondern auch eine Verpflichtung für die Zukunft.

Erstens, Europa muss sich in einer Welt behaupten, die immer mehr von einer Gegnerschaft zwischen dem demokratischen Westen auf der einen Seite und aggressiven autoritären Mächten auf der anderen Seite bestimmt ist. 

Das bedeutet zunächst, dass wir gebührend in unsere Verteidigung investieren müssen. Und wir müssen solidarisch mit denjenigen sein, die für die Demokratie, für unsere Werte kämpfen.

Das bedeutet auch, dass Europa seine strategische Autonomie in der globalen Welt festigen muss.  Autonomie bedeutet die Fähigkeit, nach unseren Vorstellungen und gemäß unseren Werten handeln zu können. 

Deshalb müssen wir die bestehenden Abhängigkeiten von autokratischen Mächten abbauen und keine neuen Abhängigkeiten entstehen lassen.

Zweitens, aus dem Bekenntnis zu unseren Werten erwächst die Verpflichtung, die Widerstandsfähigkeit, Resilience, des demokratischen Verfassungsstaates nach innen zu stärken.

Wo auch immer eines der drei seiner Grundprinzipien – Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte – in Gefahr gerät, muss der demokratische Verfassungsstaat befähigt sein, darauf adäquat reagieren zu können.

Die Europäische Union als Werteunion ist eine Union demokratischer Verfassungsstaaten. Die Mitgliedschaft in der Union ist zugleich eine Art Gütesiegel und eine Versicherung. 

Angesichts der neuen Herausforderungen müssen wir in Zukunft auch darüber nachdenken, wie wir in der Union gemeinsam diese Werte besser schützen können.

XII

Meine Damen und Herren!

Am heutigen Gedenktag trauern wir um die Opfer von Krieg und Gewalt. 

Wir gedenken auch der Opfer, die gerade jetzt, in dieser Stunde, in der Ukraine und anderswo in der Welt Krieg und Gewalt zum Opfer fallen.

Dieser Gedenktag bringt zum Ausdruck unseren festen Willen - „Nie wieder“.  Nie wieder Angriffskrieg, nie wieder Unfreiheit, nie wieder Unrechtsregime. Nie wieder Völkermord.

Freiheit und Demokratie sind es wert, geschützt zu werden.

Vielen Dank!