Grußwort der Botschafterin Alda Vanaga anlässlich des lettischen Gedenktags für die Opfer des kommunistischen Genozids
Massendeportationen aus Lettland nach Sibirien
in den Jahren 1941 und 1949
Exzellenzen,
liebe Freunde Lettlands,
meine Damen und Herren,
Ich begrüße Sie zur Veranstaltung, welche den Opfern des kommunistischen Völkermordes und den Deportationen aus Lettland nach Sibirien gewidmet ist.
Am 25. März und am 14. Juni gedenken wir der 60 000 Menschen, die von der sowjetischen Besatzungsmacht aus Lettland in die weiten Teile Russlands deportiert wurden.
Heute werden Sie die Möglichkeit haben, einen Dokumentalfilm darüber zu sehen. Ich freue mich, dass die Regisseurin des Films Frau Dzintra Geka heute Abend bei uns hier in Berlin ist und sich bereit erklärt hat, nach der Filmvorführung, in einer informellen Atmosphere, mit Ihnen über das Geschene zu diskutieren. Dzintra Geka ist nicht nur eine in Lettland hochgeschätzte Dokumentarfilm Regisseurin, sondern auch aktive Lokalpoilitikerin und Leiterin der Stiftung „Sibīrijas bērni“ (“Die Kinder von Sibirien”) - eine Stiftung, welche die Spuren der nach Sibirien verschlepten Familien aus Lettland forscht, dort geborene und geblieben Menschen besucht und die Nachkommen aus Lettland zu den Gedenkorten führt und überhaupt die Gedenkorte in Sibirien zu bewahren und zu pflegen versucht. Wie kompliziert dies heutzutage geworden ist, kann sie Ihnen später erzählen.
An dieser Stelle möchte ich auch unseren Partner für diese Veranstaltung - dem Kino Krokodil und Herrn Gabriel Hageni und Frau Debora Fiora für die gute Zusammenarbeit danken. Danke, dass wir heute Abned hier sein können!
Meine Damen und Herren!
Da ich immer noch in Deutschland Menschen begegne, die denken, Lettland sei ein junges Land, möchte ich betonen, dass die Republik Lettland am 18. November 1918 gegründet wurde und in diesem Jahr feiern wir den 106. Geburtstag meines Landes.
In den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts hat Lettland sich zu einem erfolgreichen Industriestaat mit einem starken Agrarsektor entwickelt. Die vielen Hochschulen und die große Zahl von Studierenden spielten eine besondere Rolle. Lettland hat in diesem Bereich eine der Spitzenpositionen unter den europäischen Ländern eingenommen.
Am 23. August 1939 wurde das Abkommens zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion mit dem Geheimprotokoll über die Einflusszonen unterschrieben. Die baltischen Staaten - Finnland, Estland, Lettland und Litauen wurden zwischen Nazi-Deutschland un der Sowjetunion aufgeteilt…Ein Tag, der das Schicksal Lettlands verädert hat und mit dessen Folgen wir bis zu heute zu rechnen haben.
Am 17. Juni 1940 überquerten sowjetische Truppen die lettische Grenze und nahmen alle strategisch wichtigen Punkte ein, womit die 50 Jahre lange sowjetische Okkupation Lettlands begonnen hat.
Unmittelbar nach der Besatzung Lettlands begann der Zerfall der Staatlichkeit, die Schaffung und Stärkung des sowjetischen Regimes, sowie die massive Unterdrückung und Repressionen der sogenannten „Feinde des Volkes“ und „fremden Elemente“.
Parallel zu den Strafverfahren und den Verhaftungen bestimmter „Antisowjeteinheiten“ wurde in Lettland, so wie auch in Estland und Litauen die Vorbereitungen für eine umfassende Abschiebung von Menschen aus den besetzten Gebieten nach Sibirien getroffen. Am 14. Juni 1941 erreichten die sowjetischen Repressionen ihren Höhepunkt, als 15.424 lettische Bürger - Letten, Russen, Juden und andere innerhalb einer Nacht nach Sibirien verschickt wurden.
Am 14. Juni 1941 wurden deportierte Frauen, Kinder und ältere Menschen in ein lebenslanges Lager in die Bezirke Krasnojarsk, Nowosibirsk und in die nördlichen Gebiete Kasachstans verbannt, wo sie unter Aufsicht der Spezialen Komandanturen des Innenministeriums der UdSSR hauptsächlich in forstwirtschaftlichen Betrieben, in Kolchosen und in sowjetischen Betrieben arbeiten mussten. An den Lagerorten starben über 1.900 ausgewiesene lettische Staatsbürger. Die bei der Deportation beschlagnahmte Häuser und Güter wurden nicht zurückgegeben.
Nach dem zweiten Weltkrieg versuchte die Sowjetunion in den besetzten und annektierten Gebieten, die 1940 bis 1941 begonnene Sowetisierung der Region abzuschließen, zu der die Vereinigung einzelner privater Bauernhöfe zu staatlichen Kolchosen und die Auflösung des bewaffneten Widerstands gehörten. Um diese Ziele zu erreichen, wurden aus diesen Gebieten von 1948 bis 1952 Menschen massenweise abgeschoben. Eine dieser Aktionen war die vom 25. März 1949, die gleichzeitig in Estland, Lettland und Litauen durchgeführt wurde. Es war eine der größten Deportationen nach dem Krieg in der UdSSR sowie die größte Deportationsaktion im Baltikum (insgesamt wurden 95.000 Menschen deportiert).
Die vom lettischen Nationalarchiv veröffentlichten Daten vermitteln heute das wirklichkeitsnaheste Bild von den Opfern der Deportation von 1949 in Lettland. 1949 wurden insgesamt 42.125 Menschen (2,2 % der Bevölkerung Lettlands) -16.869 Männer und 25.256 Frauen - aus Lettland entfernt. 28 % von den Deportiereten - 10.987 Personen - waren Kinder unter 16 Jahren.
Die verschlepten Letten wurden in die sowjetischen Gebiete Amur, Omsk und Tomsk gebracht. Sie alle mussten unterschreiben, dass sie lebenslänglich deportiert worden waren. Eine Flucht aus dem Lager war nicht möglich. Die Inhaftierten durften sich nicht ohne Genehmigung außerhalb des Verwaltungsbezirks bewegen. Die meisten entsandten Arbeitskräfte waren in der Landwirtschaft beschäftigt, vor allem in Kolchosen.
Das sowjetische Besatzungsregime hat 1941 und 1949 gegen das lettische Volk den Völkermord verübt.
Diese Verbrechen der Sowjetregierung blieben in der westlichen Welt kaum bemerkt. Die ersten Deportationen 1941, weil das ganze Europa und die Welt den Naziwahnsinn und Hitlers nächsten Angriff verfolgt haben.
Die Deportationen von 1949 von denen auch meine Familie persönlich und direkt betroffen war, blieben unbemerkt, weil sie hinter dem Eisernen Vorhang stattfanden, der nach dem 2. Weltkrieg und der zweiten sowjetischen Besetzung der Baltischen Ländern zwischen uns und Westeuropa landete. Selbst wenn die Exilletten und andere Stimmen versucht haben, im Westen darüber aufmerksam zu machen, keiner hat richtig zugehört, denn die Gewinner- in diesem Fall Sowjetunion- nicht verfolgt und verurteilt werden!
Meine Damen und Herren!
Gestern war der 75. Gedenkstag der Massendeportationen von 1949. Dieser Tag ist für mich persönlich von grosser Bedeutung, weil am 25. März 1949 meine Urgrosseltern aus Lettland nach Sibirien deportiert wurden. Sie wurden in der Nacht geweckt, wie weitere über 40.000 Menschen, zu den Güterzügen gebracht und in die Region Tomsk weit in Sibirien deportiert. Warum? Weil sie Landwirte waren, einen eigenen Hof besassen und nicht den sowjetsichen Kolchosen – eine Art von Gemeinschaftsunternehmen – beitreten wollten. Meine Grosseltern waren damals sehr jung (25 und 28), hatten ein kleines Kind - nämlich meinen Vater und konnten sich von den Deportationen retten, da sie in dieser Nacht von 25. März nicht zu Hause übernachteten. Wenn das nicht der Fall gewesen wäre, stünde ich wahrscheinlich nicht heute hier vor Ihnen und könnte nicht erzählen …
Leider hat mein Urgrossvater die Zwangsarbeit und das raue Klima und Leben in Sibirien wie viele der Verschlepten nicht überlebt. Meine Urgrossmuter konnte in den 50er Jahren nach Lettland zurückgekehren, ohne das Recht auf ihren Hof und ihr Haus, ohne das Recht in der Hauptstadt leben und arbeiten zu können.
Die Opfer der sowjetischen Repressionen konnten erst nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands in den 1990er Jahren rehabilitiert werden. Ich habe versucht rauszufinden, wo mein Urgrossvater verstarb und wo sein Grabmal liegt. Lange Jahre - ohne Erfolg. Aber heute möchte ich die Gelegenheit nutzen und betonen, dass dank der Arbeit von Regisseurin Dzintra Geka und ihrem Team, die langen Jahre unermüdlich nach den nach Sibirien verschlepten Letten gesucht haben, weiss ich, wo mein Urgrossvater verstorben ist. Ich bin sehr froh und dankbar, dass im Dorf Novojugina am Rande des riesengrossen Sumpfs Vasjugana in Kargasok ein Denkmal mit all den Namen der dahin verschlepten und ermordeten Letten errichtet wurde. Dort steht auch der Name meines Urgrossvaters, Jūlijs Vanags, geboren in 1882, ermordet in 1952.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Der Hauptfeind des kommunistischen Regimes war ein selbstbewusster Mensch, der sich nicht blind an die Anweisungen von oben hielt. Jeder konnte vor dem komunistischen Regime schuldig werden - Künstler, Schriftsteller, Pädagoge, Beamter, Arbeiter oder Landwirt.
Leider gibt es heute in unserer direkten Nachbarschaft ein Land, in dem das Siegersyndrom und das Straflosigkeitsgefühl herrschen. Ein Land, das nicht einmal versucht hat, seine blutige Geschichte und Verbrechen aufzuarbeiten. Die Folgen sehen wir alle - ein schrecklicher, blutiger, sinnloser Russischer Angriffskrieg in der Ukraine, mitten in Europa im 21. Jahrhundert. Dies ist ein weiterere Grund, warum wir über die Geschichte sprechen müssen, an die russisch sowjetischen Verbrechen erinnern müssen und alles dafür tun müssen, um Russland jetzt zu stoppen und zur Verantwortung zu bringen.
Meine Damen und Herren!
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und ich hoffe, ich konnte mit dieser Einführung mein Land Ihnen noch etwas näherbringen und dass auch der Film “Gruss aus Sibirien!” Sie zum nachdenken bringen wird!
Alda Vanaga, Botschafterin der Republik Lettland,
gehalten am 26.03.2024 im Kino Krokodil, Berlin, anlässlich des lettischen Gedenktags für die Opfer des kommunistischen Genozids.